DER NEUE HUND – MIT DEM RUCKSACK VOLLER ÜBERRASCHUNGEN

Hast du folgende Sätze schonmal gehört?

"Ich nehme lieber einen Welpen, wer weiß, was der Tierschutzhund schon durchgemacht hat!"

"Meine war die ruhigsten im Wurf. Sie wird sicher sehr ausgeglichen."

"Mein Hund wurde eingeschätzt als ein unterwürfiges Tier. Er wird sich leicht erziehen lassen."

"Ich habe meinen Hund im Tierheim kennengelernt, der ist sehr ruhig und anhänglich."

Oft werden diese Sätze irgendwann relativiert durch einen Satz. Ein Satz der sich immer und immer wieder gen wiederholt.

"Das hat er ja noch nie gemacht!"

Woran liegt es, dass sich Hunde in einem neuen Umfeld so anders entwickeln und scheinbar ganz neue Persönlichkeitsmerkmale entwickeln, obwohl sie im Tierheim doch so unscheinbar wirkten. Und weshalb ist der kleine süße ruhigste Welpe aus dem Wurf am Ende genauso ein Pubertier wie alle anderen?

Mir selbst ist das nun passiert. Ich war im Mai in Spanien unseren eigentlich neuen Wegbegleiter besuchen. Dabei half ich ein paar Tage im Refugio und lernte einen weiteren Hund kennen, Viserio. Durch viele Verkettungen wohnt er nun bei uns und wird auch bei uns bleiben. Was an der ganzen Sache nun so spannend ist?

Der Schleier des ersten Kennenlernens

Ursprünglich hatte ich ihn für eine liebe Kundin ausgesucht. Sie hielt Ausschau nach einem jungen Rüden, ruhig, vorsichtig aber nicht ängstlich, menschenbezogen und ohne Verhaltensschwierigkeiten. Der Hund sollte als Therapiehund ausgebildet werden und sie täglich auf Arbeit begleiten. Entsprechend robust und stressresistent musste er sein.

Viserio schien all das mitzubringen. Er war enorm höflich, sprang nicht an, bewegte sich sehr ruhig, war verträglich und angesichts des Stress im Refugio schien er absolut in seiner Mitte zu ruhen. Was für ein atemberaubend toller Hund. Souverän, freundlich, nicht aufdringlich. Er schien absolut perfekt zu sein und das mit seinen zarten 2 Jahren. Von den Mitarbeitern des Vereins wurde er ebenso beschrieben wie ich ihn erlebt hatte. Einzig eine Anmerkung gab es, die ich nicht beobachten konnte. Es wurde berichtet, er habe Führungsqualitäten. In seiner Gruppe hat er das Wort, macht all dies aber sehr ruhig und fair. Beißereien gab es keine. Das konnte ich mir bei seiner Art sehr gut vorstellen.

Nachdem es mit der Endstelle leider nicht geklappt hat, entschieden wir uns ihn in Pflege zu nehmen. Ich sicherte meinem Freund zu, dass er wahnsinnig nett und unkompliziert sei und ich war mir sicher er kann allein bleiben...Peinlich, wenn ich heute darüber nachdenke! Schließlich erlebe ich all das nicht zum ersten Mal und ich sollte es besser wissen. Naja, es kam wie es kommen musste.

Die aufregenden ersten Wochen

Die Entscheidung war getroffen, Viserio reiste zu uns. Mein Freund holte ihn ab und war ebenso fasziniert von ihm wie ich. Inzwischen war er 3 Jahre alt. Er hatte Geburtstag an dem Tag, als ich Spanien wieder verließ. Nächstes Jahr feiern wir eine fette Party, versprochen!

Der erste Schleier fiel sehr schnell. Wir sind mit den Hunden spazieren gegangen und uns fiel auf, dass der sichere soveräne Hund kein Erkundungsverhalten zeigte und den Platz an unserer Seite nicht verließ. Er hatte Angst. Nein, seine Rute war nicht eingezogen, er hat das Laufen nicht verweigert oder andere ähnlich laute Angstzeichen gezeigt. Er hat es still und leise ertragen und versucht seine Angst zu verbergen. Doch uns schrie sie förmlich an.

Wollte einer von uns die Wohnung verlassen, fing er fürchterlich an zu schreien. Ging ein Hund war es noch schlimmer. Ruhig war er nur, wenn wir alle zusammen waren. Aus der Traum vom Hund, der sofort wunderbar allein bleiben kann. Es war für mich wie ein Deja Vu, ich erlebte all das nochmal, was ich früher mit Chouky durchlebt hatte.

Die ersten Tage konnte er sich nur in unserem Garten lösen. Wenige Tage nach seiner Ankunft stand ihm leider ein stressreiches Wochenende bevor, wir waren auf einem Seminar. Ich konnte es nicht mehr verschieben und er wirkte ja so stressresistent. Da fiel die nächste Hülle, 2 Tage nach Einzug. Er verteidigte heftig Futter gegenüber unserer anderen Hunde, auch wenn es mein Essen in meiner Hand war. Kein Hund durfte sich näher als 20 Meter nähern. Auch Liegeplätze wurden nun verteidigt, wenn er darauf gelegen hatte und ein Hund vorbei wollte. Uns gegenüber zeigte er kein Aggressionsverhalten. Vor uns hatte er eine leise Angst.

In den nächsten Tagen sammelten sich eine Reihe anderer Verhaltensweisen, die nicht in unseren Plan passten. Er wollte nicht ins Auto einsteigen und hatte Angst während der Fahrt, war nicht stubenrein, begann fremde Hunde an der Leine heftigst zu verbellen und klaute mit einer Dreistigkeit ALLES was nicht angeschraubt war. Essbares wurde sofort verschlungen.

Wenn die Seifenblase platzt

Ich hatte es schon erwähnt. Ich fühlte mich nun irgendwie wie in einem Deja Vu. Chouky 2.0 würde ich sagen. Doch damals hatte ich mich darauf eingestellt, diesmal sollte es alles einfacher werden. Was genau ist passiert? Wieso zeigt dieser Hund nun so andere Verhaltensweisen? Fest steht, er ist ein komplett anderer Hund als der, den ich in Spanien kennengelernt hatte. Meine Vermutung heute ist, dass er durch den Stress enorm gehemmt war und einiges an Verhalten nicht gezeigt hat. Anderes konnte er hier nicht zeigen, weil die Situationen so nicht aufgetreten sind. Stubenreinheit, Leinenpöbelei und Diebstahl können im Tierheim auf Grund der Gegebenheiten nicht auftreten. 

Die Ressourcenverteidigung wird es wohl schon gegeben haben. Vermutlich war seine Gruppe deshalb so still. Nicht weil er der souveräne Anführer war. Sie wussten vermutlich ganz genau, es gibt auf die Fresse, wenn sie sich falsch bewegen. Prügel austeilen kann er gut... Er musste vermutlich auch viel davon einstecken.

Er hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber Chouky. Ich habe in den letzten Jahren enorm viel dazu gelernt. Das hilft heute viele Fehler zu vermeiden und ihm eine wundervolle Entwicklung zu ebnen. Inzwischen ist er seit 5 Monaten bei uns. Seine Angst ist deutlich gesunken, lösen kann er sich inzwischen überall. Allein bleiben klappt für ca. 2 Stunden ebenfalls, danach wird ihm langweilig, macht aber keinen Schaden.

Ein kleiner Dieb ist er noch immer. Danke dafür, denn so aufgeräumt war es hier noch nie. Fast wie in einem Möbelkatalog. Ich liebe es! Sind wir dabei, stiehlt er uns nichts mehr. Und die Ressourcenverteidigung? Ist Vergangenheit, inzwischen ist er ein Lämmchen mit unseren anderen Hunden. Jeder einzelne von ihnen ist ihm wahnsinnig wichtig, er sucht stets Körperkontakt und passt auf sie auf. Er liebt es mit ihnen zu spielen, kuscheln oder Blödsinn zu machen.

Auch wenn all das so nicht geplant war, sind wir wahnsinnig dankbar, dass er in unser Leben getreten ist und es nicht wieder verlassen wollte!

Warum ist das So?

Inzwischen benimmt sich Viserio einfach altersentsprechend. Wir fangen nun an intensiv an seinen Begegnungsproblemen zu trainieren, damit auch das der Vergangenheit angehören kann. Fest steht, niemand kennt seine Vergangenheit. Niemand weiß wie oft er hungern musste, sich verteidigen musste oder einfach Prügel eingesteckt hat. Hatte er Freunde, die Möglichkeit nach Bedürfnisbefriedigung, seine Mutter oder Geschwister bei sich? All das wird für immer im Dunkeln bleiben. Am Ende spielt es für das Training keine so tragende Rolle. Viel wichtiger ist ,nicht alles zu entschuldigen sondern daran zu arbeiten. Seinen Hund zu unterstützen, sich entwickeln zu können. Und all das ohne ihm weitere Angst zu machen.

Viserio hat gelernt das etwas Gutes folgt, wenn sich die anderen Hunde unserem Essen nähern. Er weiß, er bekommt etwas ab, wenn er sich ruhig verhält, dann muss er nicht mehr klauen. Er hat konditionierte Entspannung gelernt, die ihm das allein sein und die Autofahrten ermöglicht haben. Stubenreinheit hat etwas gedauert, kein Wunder, wenn man weiß, dass bei Stress mehr Urin produziert wird und er sich draußen anfangs vor Angst nicht lösen konnte.

Letzten Endes ist die Erscheinung vor Ort im Tierheim, beim Züchter oder einer Pflegestelle immer nur eine Momentaufnahme. In seinem Fall ist davon nahezu nur seine coole Frisur und seine wunderschönen Augen geblieben. Sein Verhalten stellt sich fast komplett anders dar. Aber das ist ok so!

Es ist auch ok, wenn der ruhigste Welpe in der Pubertät zum Rowdie wird und die Welt entdecken möchte. Es ist auch ok, wenn der zutrauliche Hund plötzlich lieber in Ruhe gelassen werden möchte. Und vor allem ist es ok, wenn der neue Hund nicht allein bleiben kann!

All das sind Eventualitäten auf die wir uns als Menschen einstellen sollten, bevor wir einen neuen Hund bei uns aufnehmen. Denn fest steht: Verhalten ist trainierbar ganz ohne Nutzung von Angst, Schreck oder Schmerz. Es macht Arbeit, aber die sind wir unseren Hunden schuldig ab dem Moment, in dem wir uns für sie entscheiden. Somit entscheiden wir auch, welches Leben unser Hund führen wird ,ohne ihn zu fragen, ob er das auch möchte.

Dabei macht es keinen Unterschied, ob es der niedliche Welpe vom Züchter, der misshandelte Tierschutzhund oder ein Hund aus einer Pflegestelle ist. Wir sollten ihnen diese Entwicklung zugestehen, so wie wir es uns auch eigene Fehler verzeihen.

Für mich ist es wundervoll zu sehen, wie er sich entwickelt und nacheinander alle Fassaden fallen lässt. Es ist ein Zeichen von Wohlbefinden und Sicherheit, dass er sich genau das traut. Das er sich traut sein Schneckenhaus zu verlassen und einfach so zu sein wie er ist: Wundervoll!

Blogartikel #31


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