PODCAST #117: DIE BEDEUTUNG VON ETIKETTEN IM HUNDETRAINING – INTERVIEW MIT MARIA HENSE

Hundemenschen nutzen gerne Etiketten, um bestimmte Verhaltensweisen oder Eigenschaften ihrer Hunde zu beschreiben. Zum Beispiel, wenn sie sich untereinander oder mit dem Umfeld über ihren Hund austauschen. Beispiele für Etiketten können sein: Trauma, Angsthund, Deprivation, Tierschutzhund, Depression oder Rasseeigenschaften. Doch welchen Charakter hat dein Hund wirklich? Darum geht es heute in der Podcastfolge um das Thema: Die Bedeutung von Etiketten im Hundetraining. 


Über die Vor- und Nachteile von Etiketten habe ich mich mit Maria Hense – Tierärztin für Verhaltenstherapie, Autorin und Dozentin – unterhalten. 

In dieser Podcastfolge erfährst du: 

  • Welche Fehler du beim Nutzen von Etiketten vermeiden solltest
  • Wie du Etiketten sinnvoll für dich und deinen Hund nutzen kannst
  • Wie Etiketten helfen können, wenn ein Hund in ein neues Zuhause einzieht
  • Warum die häufigsten Fehler in der Eingewöhnungsphase des Hundes passieren
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Es gibt die unterschiedlichsten Etiketten, die man Hunden so „aufkleben“ kann. Die Palette reicht von „unsicher“ oder „ängstlich“ bis hin zu „Trauma“, „Deprivation“ oder auch „Depression“.
Etiketten stellen also eine Art Überschrift dar, um mit einem oder wenigen Worten einen komplexen Sachverhalt zu beschreiben. In der Hundewelt beziehen sich die meisten Etiketten auf auffälliges Verhalten von Hunden. Deswegen geht es heute darum die Bedeutung von Etiketten im Hundetraining für Euch näher zu beleuchten.

Die Bedeutung von Etiketten im Hundetraining gestaltet sich deswegen so schwierig, weil sich die meisten Etiketten lediglich auf auffälliges Verhalten bei Hunden beziehen. Durch das Reduzieren eines komplexen Sachverhaltes auf ein Wort, besteht die Gefahr von Missverständnissen, wenn mein Gegenüber eine andere Vorstellung von dem Begriff hat als ich.
Dennoch kann es für Hundemenschen hilfreich sein, das auffällige Verhalten ihres Hundes benennen zu können. Um so selbst und aus dem Umfeld mehr Verständnis für ihren Hund zu erlangen. Und um Strategien und Lösungswege zu finden und sich so weiter entwickeln zu können.


"Wenn du das Etikett benutzt, als Tür sozusagen, in eine Welt, in der Wachstum möglich ist, dann ist das ja klasse! Du musst die Tür halt aufmachen."

Maria Hense


Damit Etiketten dich und deinen Hund nicht einschränken, sondern euch dienlich sein können, solltest du sie niemals als Ende, sondern immer als Anfang betrachten. Also nicht: Schublade auf, Hund mit Etikett rein, Schublade zu und fertig. Denn dann ist kaum Raum für Entwicklung für deinen Hund vorhanden.

Wenn du ein Etikett aber als Schlüssel siehst, der die Tür aufschließen kann – trotz vielleicht „großem“ Etikett, wie z. B. „traumatisierter Hund“ –, dann kann es dir helfen, den Status deines Hundes richtig einzusortieren. Und dich selber zu strukturieren, Lösungen zu finden und – vielleicht in kleinen Schritten – aber stetig weiterzugehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Entwicklung unserer Hunde erst an dem Tag ihres Todes endet. Bis dahin ist stete Entwicklung möglich und diese Möglichkeit sollten wir auch nutzen.


"Wenn wir dem Hund ausreichend Zeit geben, sich etwas

in Ruhe anzuschauen, dann muss er sich nicht

so schnell aufregen. Wenn er sich nicht so aufregt,

hat er viel mehr Möglichkeiten, angemessen auf

die neue Situation zu reagieren."

Maria Hense


Viele Probleme entstehen beim Übergang des Hundes von einer Umgebung in eine andere. Also z. B. wenn der Hund in ein neues Zuhause einzieht. Hier ist erstmal egal, ob es sich dabei um einen Welpen vom Züchter oder einen erwachsenen Hund aus dem Tierschutz handelt.
Es gibt ein paar wichtige Fragen, die dir helfen können mit mehr Verständnis für den neuen Hund kluge Entscheidungen für die erste Zeit zu treffen.

Eine Frage sollte sein: Wieviel Bewegungsmöglichkeit hatte der Hund bisher? Hatte der Hund die Möglichkeit sich in unterschiedlichem Gelände zu bewegen? Welches Gelände ist er gewohnt? Ist er überhaupt spazieren gegangen?
Diese Fragen helfen dir dabei, einzuschätzen, wieviel Bewegung dein Hund überhaupt bisher kennt.  Und schützt so vor einem – oft gutgemeinten – zu viel und zu langem Bewegungsprogramm deinerseits.


"Bei Menschen sind wir alle so feinfühlig, dass wir

dann reagieren, wenn jemand zurückzuckt oder

sich abwendet und sagt: "Lass das mal."

So sollten wir auch bei unseren Hunden sein."

Maria Hense


Dann solltest du dich fragen, ob dein Hund Gebäude von innen kennt und wenn ja, in welchem Kontext. Gerade viele Hunde aus dem Auslandstierschutz kennen nicht immer Gebäude von innen. Dadurch stellen geschlossene Räume für sie eine Einschränkung der Bewegungs- und evtl. Fluchtmöglichkeit dar. Oder sie kennen Gebäude nur im Kontext mit Tierarztbesuchen und haben diese unter Umständen negativ verknüpft.

Auch diese Frage hilft dir, zu verstehen, warum sich dein Hund vielleicht ängstlich in Räumen zeigt. Und hilft dir dabei, das richtige Maß an neuen Eindrücken für ihn zu finden. Ein Hund der bisher Gebäude nicht als etwas angenehmes kennenlernen durfte, braucht einfach etwas mehr Zeit, um die Wohnung Raum für Raum kennenzulernen.

Auch die Frage danach, wieviel Interaktion dein Hund mit Menschen bereits kennt und in welchem Zusammenhang er Menschen kennenlernen konnte, hilft dir zu verstehen, warum er sich bei dir vielleicht schon recht wohl fühlt, ihn andere Familienmitglieder aber womöglich noch sehr stressen. Oder auch: warum es vermutlich keine gute Idee ist, gleich am nächsten Tag die ganze Familie und alle Nachbarn kennenzulernen.


"Einen Hund kennenzulernen kann ein wunderschönes Abenteuer sein, wenn wir uns auf ihn einlassen und ihm die Möglichkeit geben "Nein, das will ich gerade nicht" zu sagen."

Maria Hense


Wenn dein Hund merkt, dass er sich über Körpersprache seinem Menschen mitteilen kann, dann ist es für ihn viel leichter, bestimmte Dinge zu erlernen. Weil er dadurch so viel mehr Sicherheit in der Interaktion mit dir erlangt. Wenn er merkt, dass du seine Signale verstehst und beachtest, dann wird es ihm leichter fallen zu vertrauen und Neues zu probieren.
 
Das A und O beim Kennenlernen ist ZEIT. Zeit geben, sich alles anzuschauen und Abläufe kennenzulernen. Genügend Zeit geben, um sich in das neue Leben einzugewöhnen. Mit einer Reizmenge, die dein Hund gut meistern kann und die ihn nicht überfordert. Wenn du dir und deinem Hund am Anfang genügend Zeit gibst, dann werdet ihr es in euerem späteren gemeinsamen Leben sehr viel einfacher haben.


"In der Übergangsphase braucht der Hund genügend Zeit, alles in Ruhe kennenzulernen. Um für alle diese neuen Situationen Umgangsformen zu entwicklen."

Maria Hense


Diese Übergangszeit verläuft in verschiedenen Phasen. Einige Experten haben sich damit befasst und ein Ansatz lautet: 3 Tage, 3 Wochen, 3 Monate und 3 Jahre.
 
Die ersten 3 Tagen ist der Hund sehr aufgeregt und mit der neuen Situation oft völlig überfordert. Dies kann sich durch nicht schlafen können oder sehr wenig fressen zeigen. In dieser akuten Phase kann der Hund kaum normales Verhalten zeigen und ist entweder extrem still und unauffällig oder auch völlig überdreht und neben der Spur.
 
Innerhalb der ersten 3 Wochen finden sie sich langsam in ihrer unmittelbaren Umgebung zurecht und lernen ihre Bezugsperson kennen. In dieser Phase sollte dein Hund Zeit bekommen, alltägliche Abläufe kennenzulernen und anzukommen. Ohne dabei mit all zu viel Training, Außenreizen und neuen Menschen konfrontiert zu werden.
Gutes Management ist hier von Vorteil, um deinen Hund zu schonen und ihm beim Eingewöhnen zu helfen.


"Wenn in den ersten drei Wochen so gar keine Probleme da waren, dann weiß ich: OK, dass kann alles noch kommen, weil ich weiß, der Hund ist noch gar nicht er selbst.
Wenn in den ersten drei Wochen massive Probleme da sind, dann weiß ich: OK, er ist noch sehr stark gestresst und ich kann ihn durch gutes Management schonen und entlasten, damit er weniger unerwünschtes Verhalten zeigt.
"


Maria Hense


In den ersten drei Monaten (oder auch länger) verarbeitet der Hund den „Kulturwechsel“ von der alten Umgebung zu seiner neuen Umgebung. In dieser Zeit ist der Hund immer noch stark damit beschäftigt, in sein neues Leben hineinzufinden und du solltest dir bewusst sein, dass Training zwar möglich ist, du aber keine Stabilität im Training erwarten kannst.
 
Es macht in dieser Zeit noch wenig Sinn, lebenswichtige Signale wie den Rückruf zu trainieren. Selbst Hunde, die sich augenscheinlich sehr schnell ihrem Menschen anschließen, machen dies meist aus dem Grund, weil sie hoffen, dass die Nähe zu diesem Menschen ihr Überleben sichert.
Bis sie sich wirklich geborgen fühlen in dieser Beziehung, braucht es einfach Zeit.

Die Phase der 3 Jahre steht stellvertretend dafür, dass lebenslang Anpassungen an das aktuelle Leben stattfinden, weil der Hund sich immer sicherer wird in seiner Umgebung.
Mein Beagle Pablo hat sich sein ganzes Leben lang entwickelt und fing nach 6 Jahren bei mir plötzlich an, andere Menschen interessant zu finden und sich auch von Fremden Menschen anfassen zu lassen und ihnen mal „Hallo“ zu sagen. Obwohl er, als er zu mir kam, große Angst vor fremden Menschen hatte.


"Wenn die Hunde selbstständiger werden, ist das ein Anzeichen dafür, dass sie sich sicher genug fühlen, ihre Familie oder ihre normale Umgebung zu verlassen, weil sie sich sicher sind: die sind noch da, wenn ich zurückkomme. Eigenständigkeit kann relativ spät kommen, auch noch nach Jahren."

Maria Hense


Es ist so spannend, wie sich Hunde im Laufe ihres Lebens entwickeln können, wenn sie genügend Zeit und einen liebevollen und respektvollen Umgang haben.
Es gibt Hunde, die sehr stark unter ihrer Vorgeschichte leiden und sich kaum trauen sich frei zu bewegen und nur liegen oder sehr starke Geräuschängste haben. Man kann aber zu jedem Zeitpunkt versuchen, spontanes Verhalten, Interesse, Neugierde und Ausprobieren bei den Hunden zu unterstützen, indem wir dieses Verhalten zulassen oder sogar loben.


Neugier und Ausprobieren zu fördern, auch wenn es nur ein ganz vorsichtiges Hingucken ist, ist wie ein Gegengift gegen die Angst. Denn Neugier ist der natürliche Gegenspieler von Angst.
Wichtig ist, dass diese Neugier, dieses Ausprobieren-wollen vom Hund selbst kommt. Wir sollten nicht versuchen, ihn irgendwie dazu verlocken zu wollen. Denn den Hund in Situationen hineinlocken zu wollen ist mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden.


"Etiketten können der Schlüssel sein, der die Tür aufmacht zu neuen Möglichkeiten, aber wir müssen unbedingt aufpassen, dass wir uns nicht einschränken lassen durch diese Etiketten."

Maria Hense


Alles Wissenswerte zu Maria Hense:

Mit Maria könnte ich noch stundenlang über dieses und weitere spannende Themen sprechen. 

Wenn du mehr über Maria erfahren möchtest oder mehr über ihre Bücher, Vorträge oder Möglichkeiten des Einzeltrainings herausfinden möchtest, dann schau auf ihrer Webseite vorbei. 

Hier findest du Maria's Homepage.


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